InteriorFashion: Der Begriff Nachhaltigkeit wird sehr inflationär und manchmal auch missbräuchlich verwendet. Wie definieren Sie nachhaltige Innenarchitektur bzw. nachhaltiges Bauen?
Tina Kammer: Wir sprechen von Nachhaltigkeit, wenn der gesamte Prozess bewusst nachhaltig gestaltet und in Kreisläufen gedacht ist – vom Entwurf über die Fertigung bis zur späteren Weiterverarbeitung. Weiterhin geht es darum, sozial verantwortungsvoll zu bauen und Abfall erst gar nicht entstehen zu lassen. Die Umweltkrise und der gesamte gesellschaftliche Wandel verändern grundlegend unsere Anforderungen und die Weichen dafür werden in der Planung gestellt. Ziel muss ein kreislauffähiges Bauen sein.
IF: Warum reicht Recyceln nicht aus?
Kammer: Beim Recyceln werden Güter, die zu Abfällen geworden sind, zum Teil mit einem enorm hohen Energieverbrauch aufbereitet. Am Ende steht in der Regel ein qualitativ schlechteres Produkt. Downcycling von ursprünglich wertvollen Rohstoffen ist daher keine zukunftsorientierte Lösung. Das Konzept der Kreislaufwirtschaft betrachtet Materialien und Produkte in ihrer ökologischen Gesamtbewertung und hat die Umstellung der Wertschöpfung zum Ziel. Das heißt, weg vom linearen hin zu einem zirkulären Modell, das Rohstoffe so lange wie möglich gleichwertig nutzt und erst gar keinen Abfall entstehen lässt. Es ist alternativlos.
IF: Experten gehen davon aus, dass dieser Strukturwandel hin zu einer Circular Economy ähnliche Ausmaße annehmen wird, wie die Energiewende. Zudem sprechen sie von einem Zeitraum von 25 Jahren, um den Wandel zu vollziehen. Sie betonen aber, wir haben keine Zeit mehr. Befinden wir uns hier nicht in einem großen Dilemma?
Kammer: Ich sehe das Dilemma eher darin, dass wir noch immer glauben, wir könnten weiter so agieren wie bisher. Wir denken nach wie vor, wir könnten über Lösungen und Wege diskutieren, anstatt die bereits seit Jahrzehnten bekannten Erkenntnisse umzusetzen. Der Aberglaube, dass irgendwann irgendwo eine Technologie entwickelt wird, die alles richtet, ist weit verbreitet. Doch der Gedanke ist nicht nur waghalsig, sondern Harakiri. Wir stellen in unserer täglichen Arbeit fest, dass die Verantwortung von einem zum anderen geschoben wird, wodurch Argumentationsketten entstehen, die im Kreis laufen. Letztendlich ist es ein großes Verzahnungs- und Vernetzungsthema, das wir als positives Signal begreifen sollten. Wir, die Kreativen, dürfen richtig kreativ werden. Das ist doch toll!
IF: Muss man nicht auch kreativ werden, um alle Beteiligten ins Boot zu holen?
Kammer: Zirkuläres Bauen ist ein Kulturprojekt. Wir alle sind hinsichtlich Ästhetiken geschult, aber im Angesicht der Bauwende sollten wir unsere ästhetischen Ansprüche und Gewohnheiten in Frage stellen. Beton- oder Stahl-/Glaskonstruktionen sind keine zukunftsfähigen Lösungen, weil ihr Rohstoffverbrauch, ihre fehlende Kreislauffähigkeit und die gebundene graue Energie im Gegensatz dazu stehen. Wir müssen wirklich etwas verändern. Deshalb spreche ich auch von der Haltung und den Erwartungen, die dahinter stehen. Wie bin ich bereit, was zu verändern? Es wird immer über Verzicht gesprochen. Darum geht es gar nicht. Allerdings wird die Ökodiktatur, über die alle reden, kommen, wenn wir nicht alle Gas geben. Es ist doch eine tolle Aufgabe, die Zukunft besser zu gestalten. Eigentlich ist ja unser Berufszweck, Dinge besser zu machen. Das ist das Ureigenste, was ein Designer leistet. Wir sind doch die Kreativen, die die Gesellschaft und das Leben der Zukunft beeinflussen. So oder so. Dann können wir es auch gleich richtig machen.
IF: An dieser Stelle möchte ich eine Aussage aus einer Studie des Sentinel Haus Instituts in den Raum werfen, die besagt, dass die Innenraumluft durchgehend schlechter ist als außen. Was sagen Sie dazu?
Kammer: Das ist für den Berufszweig peinlich. Wenn ich für Menschen etwas gestalte, was sie krank macht, ist das doch Wahnsinn. Wenn ich mit nachhaltigen Materialien arbeite, stellt sich diese Frage gar nicht. Das ist auch einer gewissen Logik unterzogen: Wenn ich mit einem kreislauffähigen oder einem Cradle-to-Cradle-zertifizierten Produkt arbeite, hat das von Haus aus eine gute Qualität. Denn es liegt schon im ureigensten Interesse des Herstellers, dass er sich mit der Rücknahme keine toxischen Inhaltsstoffe ins Lager holt.
IF: Kommen wir noch einmal zurück zum Ausmaß des Strukturwandels. Es muss ja die gesamte Wertschöpfungskette einbezogen werden.
Kammer: Das ist richtig. Wie bereits gesagt, es fängt bei der Planung an, geht über die eingesetzten Materialien bis hin zum Handwerker auf der Baustelle. Es geht also um die Art und Weise des Bauens. Wir als Fachschaft müssen lernen, Konstruktionen so zu entwickeln, dass sie wieder rückbaubar sind. Ich nehme gerne die berühmte Silikonfuge als Beispiel. Diese ist für mich ein Zeichen, dass wir nicht gut gestalten. Denn wenn wir eine Silikonfuge brauchen, um etwas abzudichten, ist in der Gestaltung etwas schief gelaufen. Früher hat man diese nicht gebraucht – da gab es gar kein Silikon. Hier ist Rückbesinnung gefragt. Es gibt Lösungen aus der Vergangenheit, deren man sich einfach nur wieder bewusst werden muss. Ja, ich weiß, es gibt Regelwerke und Regeldetails, aber davon müssen wir Abstand nehmen. Wenn wir alles verkleben, dann brauchen wir über Kreisläufe nicht zu sprechen. Aber das sind Gestaltungsfragen par excellence. Und natürlich müssen wir auch die Gewerke in den Prozess einbeziehen. Das zirkuläre Bauen muss auch auf der Baustelle umgesetzt werden. So ist z. B. das Verkleben komplett kreislauffähiger Teppichfliesen vollkommener Unsinn.
IF: Es wird ohnehin enorm viel gebaut …
Kammer: … und es werden wahnsinnig viele Gebäude abgerissen. Wenn ich mich hier in Stuttgart umschaue, dann sind die mitunter nicht einmal zehn Jahre alt. Das dürfen wir uns nicht mehr erlauben. In den Konstruktionen steckt die meiste graue Energie und die wird bisher bei den meisten Ökobilanzen einfach nicht berücksichtigt. Wenn wir schon abreißen, dann muss man zumindest überlegen, ob nicht das Gerüst des Gebäudes stehen bleiben kann. Übrigens: Wenn wir uns zukünftig mehr mit dem Thema Gebäudebestand beschäftigen, dann ist das die Stunde der Innenarchitektur. Nachhaltiges Sanieren und Umbauen, Verdichten, Aufstocken, Umnutzen – das sind Themen, in denen die Innenarchitektur stark sein muss und bei denen sich Innenarchitekten auch auskennen. Deshalb ist der Berufszweig ja auch wichtig und wird immer wichtiger. Die Innenarchitekten müssen aber aufpassen, dass sie sich nicht von den großen Architekturbüros die Butter vom Brot nehmen lassen, denn diese suchen vermehrt nach Mitarbeitern mit Umbauerfahrung.
IF: Es gibt eine Reihe an Argumenten, die ins Feld geführt werden, wenn es um nachhaltiges Bauen geht. Starten wir doch einmal mit: Der Bauherr hat ein begrenztes Budget und nachhaltig Bauen ist immer teurer.
Kammer: Das Argument kann ich so nicht mehr stehen lassen. Wir können heute problemlos kostenneutral nachhaltig bauen. Das ist bewiesen und dazu gibt es genug Statistiken. Wenn wir heute die Konstruktion eines Gebäudes ausschließlich aus Holz bauen, sind wir zwar etwa 10% teurer, aber im Gegenzug ist die Bauphase deutlich kürzer. Wir haben mit unserem Studio schon Projekte nachhaltig gestaltet und keiner hat es bemerkt – zumindest nicht bei den Kosten. Wir hatten auch schon Umbauten, bei denen wir sogar günstiger waren als der übliche Schnitt. Das hat aber auch damit zu tun, dass man bei der Planung die Fragen stellt: Brauche ich das alles und worauf kann ich verzichten? Suffizienzgedanken und -fragestellungen gehören auch zur Nachhaltigkeit. Und wir müssen uns und unseren Beruf auch als Beratung verstehen.
IF: Machen wir weiter: Es fehlt eine Übersicht über nachhaltige Baumaterialien und der Rechercheaufwand ist so immens, das zahlt auch keiner …
Kammer: Dieses Argument zählt für mich ebenso wenig. Unser Wissen zu nichtnachhaltigem Bauen haben wir auch erlernen müssen. Und wir müssen alle dazulernen. Das mag für den Einzelnen unübersichtlich erscheinen, aber das entbindet nicht davon, sich zu informieren. Es gibt Netzwerke und Institutionen, die hier unterstützend tätig werden. Zum Beispiel Architects for Future oder das Bauhaus der Erde. Es gibt viele Möglichkeiten, sich zu informieren und dazuzulernen. Und eines muss ich einmal ganz deutlich sagen: Wir kommen um das Thema nicht herum, die Entwicklung hin zum nachhaltigen, zirkulären Bauen schreitet voran. Es ist daher nicht die Frage, ob wir das wollen, sondern ob wir dabei sein oder ob wir hinterherlaufen wollen. Lernen passiert ja auch durch Tun. Fragen bauen Druck auf. Das stellen wir in unserer täglichen Arbeit fest, wenn Hersteller zunehmend mit Fragen in diese Richtung konfrontiert werden, suchen sie nach Lösungen. Und das Gleiche gilt für Architekten und Innenarchitekten. Das ist aber auch etwas Positives und bereichert die eigene Arbeit. Wenn wir allerdings glauben, dass uns die Transformation wachküsst, haben wir immer noch nicht verstanden, um was es bei der Bauwende geht.
IF: Ein Argument habe ich noch: Warum soll ausgerechnet Deutschland, das lediglich für 2% des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich ist, eine Vorreiterrolle einnehmen?
Kammer: Wir haben unseren CO2-Ausstoß lediglich outgesourct. Über die Hälfte entsteht in den Herstellerländern unserer Produkte – also außerhalb Deutschlands. Und wenn man die dazu rechnet, sind die 2% ganz schnell obsolet. Laut Umweltministerium liegt der Pro-Kopf-Ausstoß in Deutschland doppelt so hoch wie im weltweiten Durchschnitt. Unser Wohlstand beruht auf einer Historie, die von Ausbeutung der Länder auf der Südhalbkugel geprägt ist, die zudem mit einer massiven Umweltzerstörung in diesen Ländern einher gegangen ist. An diesem Wohlstand halten wir nun fest, stoßen weiterhin CO2 aus und pflanzen im Gegenzug irgendwo auf der Südhalbkugel Bäumen, die unsere CO2-Emissionen kompensieren sollen. Gleichzeitig wollen wir diesen Staaten vorschreiben, dass sie nicht so viel CO2 produzieren dürfen. Aus diesem Grund ist es wichtig, von einer Klimagerechtigkeit zu sprechen. Es gibt aber noch etwas, was mich an diesem Argument stört: Deutschland ist ein Technologiestandort und wir haben in dieser Hinsicht ein enormes Know-how. Wir sollten Technologien entwickeln, die die Transformation unterstützen, wie gesagt nicht ersetzten, aber unterstützen. Wenn wir keine neuen Technologien entwickeln, dann übernehmen das andere Länder. Dann sind wir es, die die Produkte und Lösungen einkaufen müssen. Und letztendlich ist das 2%-Argument nur ein Stehlen aus der Verantwortung, denn schließlich waren wir es, die das Thema durch die Industrialisierung ins Rollen gebracht haben. Und wir sind es, die wiederum Lösungen anbieten müssen.
IF: Oftmals wird ja auch der Verlust von Arbeitsplätzen angeführt, um etwas nicht zu tun …
Kammer: Das ist immer ein Totschlagargument, doch das ist eine normale Entwicklung und passiert auch nicht von heute auf morgen. Dafür tun sich im Gegenzug neue Berufsfelder auf. Vor 30 Jahren gab es auch noch keine Energieberater. Wenn wir Gebäude wirklich als Materiallager begreifen, dann brauchen wir Spezialisten, z. B. für die Bestandserfassung, die Rückbauplanung oder den Einsatz von Sekundärrohstoffen. Auch kreislauffähiges Gestalten muss von Spezialisten begleitet werden. Die neuen Berufsfelder können heute noch gar nicht benannt werden, aber in jeder Entwicklung werden Menschen gebraucht, die diese vorantreiben. Das ist nicht mit künstlicher Intelligenz machbar. Und auch die Industrie wird sich umstellen (müssen). Ein gutes, wenn auch branchenfremdes Beispiel ist das Unternehmen Werner & Mertz, Hersteller der Marke Erdal. Als Schuhcreme nicht mehr so gefragt war, hat man Frosch als Marke für Reinigungs- und Pflegemittel entwickelt. Heute macht das Unternehmen mit Frosch deutlich mehr Umsatz als mit Erdal und setzt Maßstäbe bei ökologischen Entwicklungen.
IF: Apropos neue Spezialisten. Findet das kreislauffähige Bauen in den Hochschulen schon Berücksichtigung?
Kammer: Es gibt vereinzelt Angebote, aber es gibt sie noch nicht flächendeckend. Ich bin selbst seit diesem Jahr, neben meiner Tätigkeit bei InteriorPark, als Professorin an der IU Internationale Hochschule tätig. Ziel ist, die Prinzipien des nachhaltigen bzw. kreislauffähigen Bauens ganzheitlich in die Lehre einfließen zu lassen – Einzelbetrachtungen bringen uns hier nicht weiter. In der Vergangenheit haben wir bei Gebäuden über die Senkung von Energieverbräuchen geredet. Es wurde aber nie dabei bedacht, dass das, was wir dazu brauchen, auch schon graue Energie beinhaltet und die Rechnung meist negativ ausfällt. Das heißt, das Gebäude konnte gar nicht so viel Energie einsparen, wie man zuvor reingepackt hat. Zudem hat man den Nutzer nicht in die Berechnung einbezogen.
IF: Muss nicht auch die Politik entsprechende Rahmenbedingungen für die Transformation zur Circular Economy schaffen? Oder anders gefragt, was erwarten Sie von der Politik?
Kammer: Natürlich brauchen wir Rahmenbedingungen, aber letztendlich sind die Themenfelder geklärt. Was getan werden muss, ist bekannt. Es geht jetzt um den Mut, auch über Lobbyisten hinweg, Dinge zu entscheiden. Wenn wir gemeinschaftlich Veränderungen vorantreiben wollen, müssen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gegenseitig den Druck erhöhen. Es kann also nicht sein, so lange nichts zu tun, bis die Politik handelt. Mit der neuen Regierung haben wir zwar jetzt andere Bedingungen, aber ich habe keine großen Hoffnungen, dass sich hier all zu viel ändern wird. Die Hürden sind immens hoch. Natürlich muss die Politik Rahmenbedingungen schaffen. Zum Beispiel sollten Sekundärrohstoffe nicht doppelt besteuert werden. Damit werden sie unattraktiv. Dann bekommt man zu hören, das regelt der Markt. Nein, das tut er nicht. Der Markt ist durch Subventionen, Förderungen und Steuerpolitik geregelt. Wir geben in der EU und in Deutschland über 50 Milliarden Euro für klimaschädliche Subventionen aus. Wenn wir diese abschaffen würden, hätten wir schon viel gewonnen. Und natürlich muss auch das Baurecht überdacht werden. Hierzu sind auch schon verschiedene Petitionen, z. B. von der Bundesarchitektenkammer oder dem Bauhaus der Erde, gestartet worden. Auch wenn ich mich wiederhole: Es ist alles schon verschriftlicht. Auch was Deutschland tun muss, um das 1,5-Grad- Ziel zu erreichen. Es muss einfach nur gemacht werden. Dabei muss man die Menschen mitnehmen. Man muss ihnen erklären, dass es keinen Verlust bedeutet, sondern eine Veränderung. Hier steht auch die Presse in der Verantwortung. Man darf nicht immer nur sagen, was wegfällt, sondern die positiven Aspekte herausarbeiten. Schauen Sie doch die Diskussion um das Einfamilienhaus an. Warum soll man nicht einmal darüber diskutieren? Vielleicht ist der Traum vom Einfamilienhaus einfach nicht mehr zeitgemäß. Wir sollten uns fragen, wie wir in Zukunft leben wollen. Und dann überlegen, was zu tun ist, um dieses Ziel zu erreichen.
IF: Liebe Frau Kammer, herzlichen Dank für die offenen Worte!