NEUE ÄSTHETIK
AIT
Ausgabe Oktober 2024
Seite 146 – 149
NEUE ÄSTHETIK
WIE WIRD SICH DER ANSPRUCH AN ÄSTHETIK IN DER INNEN-/ARCHITEKTUR VERÄNDERN?
Der Europäischen Union wird so manches nachgesagt: Wie krumm darf zum Beispiel eine Banane sein? Das Gerücht zu dieser Regulierung hält sich hartnäckig, obwohl es längst widerlegt ist. Regelwerke werden per se kritisch beäugt und bei jeder neuen Verordnung macht sich die Hoffnung breit, dass man diese irgendwie umgehen kann. Doch was haben die politischen Rahmenbedingungen mit der täglichen Arbeit eines Planungsbüros zu tun? Ästhetische Qualitäten werden doch nicht von der EU festgelegt. Oder doch?
Dazu ein Blick in die jüngste Vergangenheit. Am 11. Dezember 2019 brachte die EU-Kommission in Brüssel eine Revolution auf den Weg: den Europäischen Green Deal. Er hat nichts Geringeres als eine neue Wachstumsstrategie zum Ziel, die Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent entwickeln soll. Dem Baugewerbe kommt dabei, durch seine hohen CO2-Emissionen, eine Schlüsselrolle zu. Die Abkopplung des Wachstums von der Ressourcennutzung ist für unsere Branche essenziell. Der Einsatz, die Verarbeitung und Nutzung von Rohstoffen haben direkten Einfluss auf ökonomische, ökologische und soziale Aspekte. Neue Entwicklungen und Geschäftsideen zeigen, dass ökonomischer Erfolg mit ökologischen Ansprüchen gekoppelt werden kann – indem Ressourcen geschont und effizient genutzt werden, ohne natürlichen Landschaften, der Biodiversität oder Menschen zu schaden.
Um die notwendigen Transformationsprozesse zu einer klimaneutralen und kreislauforientierten Wirtschaft zu ermöglichen, werden über zehn Jahre hinweg nachhaltige Investitionen in Höhe von mindestens 1 Billion Euro mobilisiert. Um zu definieren welche Wirtschaftstätigkeiten als wie nachhaltig gelten, trat die sogenannte EU-Taxonomie in Kraft. Sie ist als Verordnung gerade für den Finanz- und Kapitalmarkt entscheidend, um Investitionen gezielt zu fördern oder Kredite abzulehnen oder höhere Zinsen zu verlangen. Investoren und Bauherren sind insofern sehr interessiert, dass ihre Projekte, als nachhaltig eingestuft und durch günstige Konditionen finanziert werden. Diese Verordnung hat damit direkten Einfluss auf die Arbeit von Planungsbüros, denn sie müssen eine taxonomie-konforme Planung nachweisen. Bürokratisch ausgedrückt: Die Bewertungskriterien für Baugewerbe und Immobilien sind unter Punkt 7 im Annex 1 der Verordnung (EU) 2020/852 aufgeführt. Einige der Kriterien beeinflussen den Planungsprozess indem neben Energie-, Wasser- und Ressourcennutzung auch Kreislaufwirtschaft und Bodenversiegelung wesentliche Rollen spielen. Um diese Aspekte zu berücksichtigen und positiv zu beeinflussen, müssen Lebenszyklusanalysen durchgeführt werden, die sowohl den Bau als auch den Betrieb sowie den Restwert der Immobilie, d.h. der verbauten Rohstoffe inklusive der gespeicherten grauen Energien, am Ende ihrer Nutzungsphase einbeziehen.
Was hat das mit Ästhetik zu tun?
Wenn wir Ästhetik in der Architektur als Zusammenspiel aus visuellen, sensorischen und kontextuellen Faktoren verstehen, die zusammen das emotionale und intellektuelle Erlebnis eines Bauwerks bestimmen, dann prägt sie subjektiv und kulturell, aber auch universell Prinzipien von Harmonie und Proportion. Dann ist Ästhetik mehr als nur Schönheit. Sie prägt und inspiriert jeden Einzelnen und schafft sinnliches Erleben, sowohl unbewusst wie auch bewusst. Architektur ist aber auch die Summe an Bauprodukten, die seitens der Industrie erdacht und entwickelt werden. Die Anforderungen an Funktion und Ästhetik sind hoch: Material darf sich nicht verändern, nicht altern, keine Gebrauchsspuren entstehen lassen, nicht riechen und muss schmutzabweisend, feuerfest etc. sein. Beispielsweise lassen wir Holz vorergrauen, damit wir keine Überraschungen erleben, denn eine natürliche Ergrauung müssten wir, ganz ohne Kontrolle, Wind und Wetter überlassen. Auf der ganz sicheren Seite bewegen wir uns bei Holzdrucken, die dann je nach Geschmack gealtert oder wie frisch geschnitten aussehen. Die Gestaltung „quasi aus dem Katalog“ ist zwar praktisch nachvollziehbar und kalkulierbar, aber kann auch ermüden, da sie den Nutzer:innen sinnliche Erfahrungen verweigert. Die Auswirkungen auf Umwelt und Mensch durch die dazu notwendigen Lieferketten werden dabei außer Acht gelassen. Raumgestaltung ist selten langlebig, aber immer materialintensiv. Das ästhetische Empfinden der letzten Jahrzehnte ist geprägt von bedenkenlosem Ressourcen-, Energie- und Bodenverbrauch. Das prägt unsere Sehgewohnheiten bis heute.
Die Wahl des Materials beeinflusst nicht nur die Optik, Haptik und Funktion, sondern entscheidet gleichzeitig auch über die Art der Verwendung und die mögliche Verarbeitung. In der Betrachtung des gesamten Lebenszyklus zeigt sich der Einfluss auf die Herkunft und die Art der Herstellung, den damit einhergehenden Einsatz von Rohstoffen und Chemikalien, Transportwege, Energie- und Wasserverbrauch als auch Rückbaupotenziale. Ohne eine Betrachtung des gesamten Lebenszyklus ist Architektur und deren Umweltwirkungen nicht zu bewerten: CO2 ist die neue Währung. Die Akzeptanz dessen ist die Grundlage für ein neues Verständnis innerhalb des Prozesses vom immateriellen Entwerfen zur materiellen Ausführung. Es ergeben sich neue Möglichkeiten und neue Denkweisen: Wie lässt sich bereits eingelagertes CO2 nutzen? Bei einer durchdachten Planung kann nachgewiesen werden, wieviel CO2 bereits im Entwurf gelagert wird. Dies geschieht zum einen durch das Wiedereinbringen bereits verbauter Baustoffe oder durch den Einsatz nachwachsender Rohstoffe, die durch ihr natürliches Wachstum CO2 bereits einlagern. Nachhaltige Entwicklungen finden derzeit genau in diesen beiden Themenfeldern statt.
Naturphänomene verstehen – auf innovative Techniken übertragen
Die Forschung hält ausreichende Lösungsansätze zwischen Technisierung und vernakulären Ansätzen bereit. Biointelligente Materialien, die ganz ohne Dünger und Pestizide schnell wachsen, speichern währenddessen viel CO2. Obendrein sind sie ohne chemische Zusätze unter anderem resistent gegen Schimmel, Schädlinge und Feuer. Diffusionsoffen sorgen sie feuchteregulierend für ein angenehmes Raumklima. Lokal verfügbar und biologisch abbaubar entstehen dank modernster Fertigungsmethoden überraschende Ergebnisse. Innovative Herstellungstechniken erlauben trennbare Konstruktionen, so dass die Monomaterialien jederzeit in den Kreislauf rückgeführt werden können. Für bereits bestehende und verbaute Bauprodukte und Materialien bewegen sich die Lösungsansätze zwischen Technik und Logistik, denn sie müssen demontiert, sortiert und je nach Einsatz überarbeitet werden. Diese Herangehensweise bedarf einer ausgeklügelten logistischen Leistung: Wo werden die Materialien zwischengelagert? Wie können Angebot und Nachfrage zusammengebracht werden? Gibt es einen Materialpass, so dass der Hersteller ermittelt und die Materialien rückgeführt und überarbeitet werden können? Auch rechtliche Lösungsansätze zu Gewährleistungsfragen liegen inzwischen bereit. Die Honorierung der zusätzlichen Leistungen müssen Planende bisher noch individuell vereinbaren. Es sollte aber nur eine Frage der Zeit sein, bis auch dieser Punkt geklärt sein wird.
Der Fehler im System liegt bis heute darin, dass neue Materialien meistens günstiger sind als gebrauchte – ganz zu schweigen von dem ungewohnten Aufwand, der dieser neue Ansatz mit sich bringt. Das liegt auch daran, dass den gespeicherten grauen Energien genutzter Materialien zu wenig Wert beigemessen wird. Der festgelegte CO2-Preis spiegelt diesen aktuell nicht wider, wird sich aber schrittweise erhöhen. Die Integration dieser Ansätze in qualitative Gestaltung kann diesen Prozess beschleunigen. Beide Entwicklungen haben Einfluss auf den Planungsprozess und die Ästhetik in der Gestaltung. Das sinnliche Erleben wird dabei durch die erweiterten Möglichkeiten bereichert. Das betrifft den bewussten Einsatz von Zitaten durch das Wiedereinbringen von bestehenden Bauteilen ebenso wie den Einsatz natürlicher Baustoffe, die durch neue Verarbeitungstechniken überraschen. Bei allen Varianten spielen die reversiblen Konstruktionen eine entscheidende Rolle. Manche Baustoffe, die in der Vergangenheit fest miteinander verbunden wurden, lassen sich Dank innovativer Technik heute schon trennen. So können beispielsweise alte Fußböden in ihre Einzelbestandteile getrennt werden und in gleicher Qualität wieder eingesetzt werden. Das Wissen zu diesen rasanten Entwicklungen muss stetig vermittelt werden. Auf der einen Seite sind die Hochschulen gefragt ihre Lehrinhalte zu erweitern und auf der anderen Seite die Büros, die neue Gestaltungsmöglichkeiten im laufenden Betrieb mutig einsetzen und ausprobieren. Damit wird klar, dass die Aufgabe der Planenden darin liegt die politischen Rahmenbedingungen in gute Gestaltung zu übersetzen. Die Qualität von Gestaltung lässt sich durch die EU-Taxonomie zukünftig auch messen. Und unsere Sehgewohnheiten? Sie werden sich anpassen.
Sustainable Architecture & Design 2023/2024
Vor diesen Hintergründen entstand die Idee ein Jahrbuch zu nachhaltiger Architektur und Design herauszugeben. Es basiert auf der tiefen Überzeugung, dass unsere Zukunft positiv gestaltet und dieser kreative Akt gemeinsam mit allen Akteuren entwickelt werden kann. Das Jahrbuch kann im besten Fall diesen Prozess begleiten.
Es präsentiert relevante Themenfelder der Transformationsentwicklung wie Suffzienzbestrebungen, bestmöglicher Ressourceneinsatz sowie zirkuläre Prozesse, aber auch soziokulturelle Aspekte und Biodiversität.
LOT 8, Atelier LUMA / Arles, Frankreich
Circular Design Lab mit experimentellen Biomaterialien aus lokalen Rohstoffen
Grundlage für das LOT 8 Projekt waren die Ergebnisse jahrelanger Forschung, die sich mit globalen wirtschaftlichen, ökologischen und menschlichen Herausforderungen befassen und sich in fast 20 Bauanwendungen wiederfinden: von Türgriffen aus Salzkristall über Abbruchabfälle in Stampflehm bis hin zu Akustik- und Wandverkleidungen aus Agrarabfällen. Sonnenblumenfasern, Reisstroh sowie mineralische Ressourcen, Tonabfall, Erde, Steinabfälle und Staub wurden zu Baumaterialien umfunktioniert.
Der bioregionale Ansatz bedeutet die Transformation ungenutzter, lokaler Ressourcen zu ungewöhnlichen Produkten. Die meisten Rohstoffe stammen aus einem Umkreis von 70 km. Im interdisziplinären Austausch verbinden sich dabei das Know-How lokaler Akteure mit verschiedenen Fachgebieten, um Lösungen im Bausektor zu schaffen.
In vor Ort gerammten Lehmwänden tauchen Kies aus Ziegeln, Steinen und Keramik aus Abrissgebäuden in Nîmes auf. Weißer Steinstaub aus Abfällen des Sarragan-Steinbruchs in Baux-de-Provence verleiht ihnen fast eine Leichtigkeit. Der gestreifte Terrazzo entstand durch sorgfältiges Zuschneiden und Verlegen zerbrochener Tonziegel aus der Dachrenovierung. Die Steinfassade wurde mit Kalkputz und gebrochenen Dachziegeln als Zuschlagstoff neu gestaltet.
Die drei Haupträume definieren sich durch die dicken Steinmauern des Gebäudes und unterscheiden sich sowohl in ihrer Materialität als auch Nutzung: Arbeitsbereich, Werkstätten und öffentlicher Bereich für Ausstellungen oder Veranstaltungen.
Kornversuchsspeicher / Hamburg, Deutschland
Sanierung eines Baudenkmals zu Büroflächen und öffentlichen Räumen
Durch jahrzehntelangen Leerstand war eine umfangreiche Sanierung des denkmalgeschützten Getreidespeichers notwendig. Dabei konnte die markante Klinkerfassade weitgehend erhalten bleiben – aufgearbeitet und durch vorhandene Substanz ergänzt. Bei der aufwändigen Instandsetzung der Betontragstruktur im Inneren blieben historische Stützen soweit möglich erhalten. Offengelegte Deckenschütten erreichen mittels Metallmatten und Spritzbeton den notwendigen Brandschutz. Deren wolkig, raue Oberflächen tragen positiv zur Akustik bei.
Die gesamte Planung verfolgte von Anfang an einem bewusst reduzierten Ansatz: Verzicht auf abgehängte Decken, auf Putz geführt Installationen, robuste und aufarbeitbare Böden. Durch den Verzicht auf Putz, Farben und Veredelung entstehen authentische Oberflächen, die Patina ansetzen. Historische Betonteile sowie freigelegtes Mauerwerk zeigen sich unbehandelt mit zeitlichen Spuren. Der zurückhaltende Ausbau unter Einsatz von Monomaterialien betrachtet den gesamten Lebenszyklus der Bauteile und ermöglicht einen rückstandsfreien Rückbau.
Gewerbehof Flei75 / Lübeck, Deutschland
Sanierung historische Gebäudeensemble mit bewussten Kontrasten
Die historische Gebäudestruktur ist seit dem 19. Jahrhundert geprägt durch ein straßenseitiges Mehrfamilienwohnhaus und die dahinter liegende Werkstatt, sowie das Atelierhaus. Ziel der notwendigen, durchgreifenden Sanierung war die Ablesbarkeit der Geschichte zu erhalten. Um einzelne Bauteile wie alte Treppen und besondere Wandstücke zu schützen, war eine intensive Abstimmung mit und sensible Herangehensweise durch denkmalerfahrene Handwerker notwendig.
Durch die Weiterverwendung der Gebäude blieb graue Energie, die vor langer Zeit für die Herstellung der Rohstoffe und den Bau eingesetzt wurde, erhalten. Gründach und Fassadenbegrünung sorgen für einen maximalen Zugewinn an CO2-bindenden Pflanzen. Die Bewässerung ist über ein Regenwasserbecken sichergestellt, das durch die umliegenden Dächer gespeist wird.