agora42 – das Philosophische Wirtschaftsmagazin

01/2012, Seite 66 – 83
Interview mit Andrea Herold und Tina Kammer, Gründerinnen von InteriorPark.

„Nachhaltigkeit wird die Welt nicht retten“

Interview im Magazin agora42 Interview im Magazin agora42 2012

Der Begriff Nachhaltigkeit birgt einige Schwierigkeiten: Der Laie kann sich nichts Konkretes darunter vorstellen und auch der inflationäre Gebrauch des Begriff s trägt dazu bei, die Verwirrung zu vergrößern. Was halten Sie davon, den Begriff aus unserem Sprachgebrauch zu streichen? Würden wir dadurch gewinnen oder verlieren?

Weder noch. Der Begriff als solcher ist ja nicht schuld daran, dass er inflationär gebraucht und teilweise falsch beziehungsweise in einem falschen Kontext wiedergegeben wird. Vielmehr ist er Ausdruck für viele Probleme, die dadurch, dass man ihn aus dem Sprachgebrauch streicht, auch nicht gelöst wären. Vermutlich würden wir „Nachhaltigkeit“ in die Themenbereiche unterteilen, die dieser Begriff umfasst und entsprechend von Ökologie, Recycling und sozialer Verantwortung sprechen. Wir würden ganz einfach die einzelnen Komponenten der Nachhaltigkeit aufzählen. Letztendlich hätte der Inhalt des Begriffs aber nach wie vor Bestand.

In welche Themenbereiche lässt sich Nachhaltigkeit unterteilen?

Seit den 90er-Jahren ist es gängig, Nachhaltigkeit in die drei Säulen Ökologie, Ökonomie und Soziales zu unterteilen.

Sie verbinden mit Ihrem Unternehmen InteriorPark. den Anspruch, nur Produkte zu verkaufen, die aus nachhaltiger Herstellung stammen. Wie kann man das garantieren?

Natürlich kommt es darauf an, wie man „nachhaltige Herstellung“ definiert. Um die größtmögliche Transparenz zu gewährleisten, haben wir eigene Eco Icons entwickelt. Sie sind in sechs Themen aufgeteilt und spiegeln die Hintergründe, Herstellungsprozesse und verwendeten Materialien eines Produkts wider. Es ist aber auch so, dass mit den meisten Designern schon eine jahrelange Zusammenarbeit besteht und wir die Produktentwicklung beobachten. Dadurch können wir sichergehen, dass das Produkt wirklich den Kriterien genügt, die wir aufgestellt haben und das Wort Nachhaltigkeit nicht nur zu Werbezwecken benutzt wird.

Im Gegensatz zu Konzernen haben viele Designer weder die Strukturen noch die finanziellen Mittel, um ihre Produkte zertifizieren zu lassen. Wir möchten Designern, die für kleine Unternehmen arbeiten oder selbstständig sind, eine Plattform bieten; Designern, die teilweise die Produktionsstätten selbst mit aufbauen, sich intensiv mit der Materien auseinandersetzen und deren Produkte nach Nachhaltigkeitskriterien sehr, sehr hoch einzuschätzen sind, allerdings ohne ein Zertifikat zu haben – das ist eben oft eine Budgetfrage.

Sind Großbetriebe überhaupt in der Lage, den Ansprüchen an Nachhaltigkeit in der gleichen Weise gerecht zu werden wie kleinere Unternehmen?

Schwarz-weiß lässt sich dieses Bild nie malen. Genauso wenig, wie man davon ausgehen kann, dass alle Produkte, die das gleiche Zertifikat haben, den gleichen Ansprüchen genügen. Schließlich unterscheiden sie sich alle in ihrer Produktionsart, den verwendeten Materialien und so weiter. Es gibt Produkte, die aus den natürlichsten Materialien hergestellt sind, aber hinsichtlich der Arbeits- und Herstellungsprozesse zu wünschen übrig lassen. Dann gibt es andere, die in Fair-Trade-Projekten produziert werden, vielleicht aber nicht aus den natürlichsten Materialien bestehen. Wie bewertet man das? Andere sind der Ansicht, dass bei der Produktion kein Tier in irgendeiner Art und Weise beteiligt sein darf, es sich also um ein rein veganes Produkt handeln muss – auch wenn stattdessen umweltschädliche Kunststoffe verwendet werden. Ist das gut, ist das schlecht? Letztlich muss das jeder Verbraucher für sich selbst beantworten. Da die Sache so komplex ist, haben wir unsere eigenen Kriterien festgelegt, die wir kommunizieren. Dann kann sich jeder ein eigenes Urteil bilden.

In einer Hinsicht gibt es aber einen generellen Unterschied zwischen den Großkonzernen und den kleineren Manufakturen, aus denen zum großen Teil unsere Produkte stammen: Die globalisierten Wertschöpfungsketten der Großkonzerne haben enorme Transportwege zur Folge. Das fällt weg, wenn das Produkt lokal in einer kleinen Manufaktur hergestellt wird. Die kleinen Manufakturen sind viel stärker im regionalen Umfeld verankert.

Fest steht auf jeden Fall: Nachhaltigkeit hat Konjunktur. Einige werden noch auf diesen Zug aufspringen, wie auch Aldi und Lidl irgendwann erkannt haben, dass sich Bio- und Fair-Trade-Produkte gut verkaufen lassen. Warum soll da nicht beispielsweise Amazon auf die Idee kommen, auf Nachhaltigkeit zu setzen und Sie vom Markt fegen?

Das sehen wir insofern relativ gelassen, als dass wir über die Jahre hinweg ein Netzwerk von Designern aufgebaut haben, die wir auch persönlich kennen, die Produkte herstellen, die es nicht überall zu kaufen gibt und die auch gar nicht in der Lage wären, jene Mengen zu produzieren, wie Amazon sie verlangen würde. Abgesehen davon haben diese Designer auch eine ganz andere Philosophie, fern jeder Massenproduktion. Sie verstehen das Design eben auch als Aufgabe an sich selbst – es geht ihnen nicht nur darum, Produkte zu verkaufen, sondern sich intellektuell mit dem Thema Nachhaltigkeit auseinanderzusetzen. Beispielsweise stellen sie sich die Frage, ob beziehungsweise wie sich Recycling in die Produktion integrieren lässt. Muss die Plastiktüte im Meer landen oder kann ich aus ihr noch etwas machen? Häufig entstehen aus ihren Entwürfen Pionierprodukte, die weltweit in Museen ausgestellt werden.

Sollte man Design dementsprechend nicht viel umfassender verstehen, als das bisher der Fall ist?

Design ist immer mehr. Es ist immer auch ein Abbild der Gesellschaft. Designer tragen eine große Verantwortung für die Gestaltung unserer Zukunft. Indem man im Designprozess festlegt, wie das Endresultat aussehen soll, gibt man auch vor, welche Materialien verwendet und welche Ressourcen gebraucht werden, wie die Produktion aussehen wird und so weiter. Man kann durch das Design bis zu 80 % des Energie- und Ressourcenverbrauchs festlegen, der im gesamten Produktzyklus anfällt.

Wenn in erster Linie kleine Manufakturen nachhaltig produzieren, die meist teurere Produkte als etwa Ikea herstellen, kann man dann daraus nicht folgern, dass Nachhaltigkeit einen Personenkreis betrifft, der sonst keine Sorgen hat?

Ist es nicht immer so, dass am Anfang einer Entwicklung Nischen bedient werden und diese sich dann ausweiten? Man muss sich nur die Entwicklung in der Lebensmittelbranche vor Augen führen, um erahnen zu können, wie sich die Entwicklung bei Möbeln und Wohnaccessoires gestalten wird. So wurden Bioprodukte bis vor ein paar Jahren nur im Reformhaus angeboten – inzwischen bekommt man sie auch bei den Discountern. Bei Nahrungsmitteln ist man schon lange aus der Nische herausgetreten, Bio ist zur Massenware geworden. Und inzwischen sind Naturmaterialien so hoch im Kurs, dass gar nicht so viel hergestellt werden kann, wie nachgefragt wird. Beispielsweise ist der Bio-Baumwollmarkt völlig abgegrast.

Dennoch geht es natürlich auch darum, das heutige Konsumverhalten generell zu hinterfragen. Dadurch, dass wir in den letzten Jahrzehnten unseren Konsum immer weiter gesteigert haben, müssen wir entsprechend auch immer schneller entwerfen und produzieren. Wir produzieren also immer mehr Müll. Die Leute müssen realisieren, dass gute Qualität zwar teurer ist, dafür aber länger hält. Insofern ist die Nachhaltigkeitsdebatte auch eine Diskussion über die Wertschätzung von Qualität in unserer Gesellschaft. Nehmen wir beispielsweise die Sessel, auf denen wir hier sitzen. Die sind 40 Jahre alt. Sie sind sowohl vom Entwurf wie von den verwendeten Materialien her hochwertig; sie sind zeitlos modern und werden in Museen ausgestellt, weil sie das Design der letzten Jahrzehnte maßgeblich widerspiegeln. Es ist doch so: Wenn wir weniger konsumieren, können wir auch qualitativ hochwertiger konsumieren. Und dann werde ich einen Sessel auch 40 Jahre lang nutzen, weil er nicht nach ein paar Jahren auseinandergefallen ist oder ich mich an ihm sattgesehen habe.

Und um auf die Nahrungsmittel zurückzukommen: Man zahlt für Biolebensmittel – egal, wo man sie kauft – immer mehr als für konventionell produzierte Lebensmittel. Es ist aber beim Verbraucher angekommen, dass diese Produkte erstens besser schmecken und zweitens gesünder sind.

Gibt es aber nicht viele Menschen, die sich Lebensmittel aus nachhaltiger Produktion einfach nicht leisten können?

Nachhaltige Produktion ist kein Luxusthema. Natürlich ist die Herstellung von ökologischen Produkten oft mit mehr Kosten verbunden, die sich entsprechend auf den Endpreis auswirken; das lässt sich auf alle Bereiche übertragen: darauf, welches Auto man sich kauft, welchen Pullover und welchen Stuhl. Aber die Entscheidung, ein bestimmtes Produkt zu kaufen, hat oftmals nichts mit Vernunft zu tun, sondern zeigt vielmehr eine gewisse Lebenseinstellung. Dementsprechend ist für Leute, die auf nachhaltigen Konsum setzen, der Preis nicht das Ausschlaggebende.

Ist die Rolle des Konsumenten nicht widersprüchlich? Häufig hat man den Eindruck, dass Nachhaltigkeit nur insoweit praktiziert wird, wie sie den eigenen Lifestyle nicht beeinträchtigt. Man kauft zwar Biomilch und Fair-Trade-Kaffee, will aber gleichzeitig nicht auf die Urlaubsflüge und das neueste iPad verzichten. Handelt es sich nicht um eine moderne Form des Ablasshandels – nach dem Motto: Wenn ich für bestimmte Produkte mehr Geld ausgebe, kann ich mein Gewissen freikaufen?

Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen.

Wie aber kann man dann die Menschen davon abbringen, Nachhaltigkeit nur als „Ablasshandel“ zu verstehen?

Das ist genau der Knackpunkt. Nachhaltigkeit beziehungsweise bewusster Konsum wird immer mit Enthaltsamkeit, Bedürfnisbeschneidung – eben etwas Negativem – in Verbindung gebracht. Demgegenüber ist es unser Anliegen aufzuzeigen, dass das eine mit dem anderen nichts zu tun haben muss, sondern dass der bewusste Konsum Spaß macht und dass er toll aussehen kann. Alles, was mit erhobenem Zeigefinger zu tun hat oder damit, dass man auf etwas verzichten muss, ist schwer zu vermitteln. Die Leute sollten Lebensfreude und Gesundheit mit bewusstem Konsum verbinden. Bei bestimmten Dingen muss man sich allerdings entscheiden – Stichwort Urlaubsflüge. Wenn man sich in ein Flugzeug setzt, kann man einfach nicht behaupten, dass das der Umwelt zuträglich ist.

Dass man einiges verbessern müsste und verbessern könnte, weiß man im Grunde schon seit 40 Jahren. Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass auf diese offensichtlichen Entwicklungen über Jahrzehnte hinweg nicht reagiert wurde?

Vielleicht liegt es in der Natur des Menschen, dass man erst aktiv wird, wenn es nicht mehr anders geht. Das sehen wir bei den Autos: Wenn der Spritpreis steigt, macht man sich Gedanken, ob es sinnvoll ist, mit Benzin zu fahren. Ein anderes Beispiel ist die Atomkraft; auch hier wussten wir schon lange, dass sie gefährlich ist. In anderen Bereichen sehen wir erst jetzt die Auswirkungen. Die Gebäudehülle wurde im Laufe der letzten Jahrzehnte immer dichter gebaut und die Auswirkungen davon, sich den ganzen Tag in einem geschlossenen Raum aufzuhalten, kommen erst jetzt so langsam zum Tragen. Die dadurch bedingten Krankheitsfälle nehmen stark zu: Asthma, Allergien oder Atemwegserkrankungen etwa.

Ich glaube aber, dass in den letzten 40 Jahren in vielerlei Hinsicht ein Umdenken stattgefunden hat. Es hat sich sowohl ein Bewusstsein als auch ein Interesse entwickelt, sich näher und intensiver mit bestimmten Dingen auseinanderzusetzen und die eigene Lebensführung beispielsweise anhand seines ökologischen Fußabdrucks zu bewerten. Auch die Aufklärung durch die Medien, das Internet und die Konsumenten, die sich gegenseitig informieren, hat in den letzten zehn, 15 Jahren immens zugenommen.

Ökologischer Fußabdruck: Mittels des Ökologischen Fußabdrucks wird die Fläche bemessen (in Hektar), die notwendig ist, um den Lebensstil und Lebensstandard eines Menschen dauerhaft zu ermöglichen. Das schließt unter anderem Flächen ein, die zur Produktion der Kleidung, der Nahrung, zur Bereitstellung von Energie, zur Entsorgung des von ihm erzeugten Mülls benötigt werden.

Die vorsichtigen Versuche der Politiker, die Gesellschaft auf Zukunft zu trimmen, werden häufig von Großkonzernen und mächtigen Lobbygruppen im Keim erstickt. Können im derzeitigen politischen Rahmen die notwendigen Entscheidungen überhaupt getroffen beziehungsweise noch rechtzeitig getroffen werden?

Die Politik tut sich in der Tat sehr schwer damit, eine klare Richtung vorzugeben und die Gesetze entsprechend anzupassen. Im Moment folgt das komplette System – da nehmen sich Wirtschaft und Politik nichts – noch der Logik, wonach man umso mehr einnimmt, je mehr man verbraucht. Dieser ständig wachsende Verbrauch (auch Wachstum genannt) wird langfristig der falsche Weg sein. Das können wir nicht mehr stemmen. Viele Konzerne befinden sich aber auf einem guten Weg, denn sie müssen sich natürlich überlegen, woher sie in Zukunft die von ihnen benötigten Ressourcen bekommen. Es ist nicht so, dass die Konzerne reagieren, weil sie die Welt retten wollen; vielmehr wollen sie ihre eigene Haut retten. Nachhaltigkeit ist grundsätzlich ein sehr ökonomisches Thema.

Vor dem Hintergrund immer knapperer Ressourcen gewinnt Recycling immer mehr an Bedeutung. In diesem Zusammenhang wird oft von „Cradle-to-Cradle“ gesprochen. Können Sie uns kurz erläutern, was man darunter versteht und wie Sie dieses Prinzip bewerten?

Cradle-to-Cradle® (C2C) wurde von Michael Braungart, einem deutschen Chemiker, und dem US-amerikanischen Architekten William McDonough ins Leben gerufen. Hinter C2C – zu Deutsch: Ökoeffektivität – steht der Grundgedanke, dass die Natur keinen Abfall produziert, sondern sich alle Materialien in einem Kreislauf befinden. Braungart zertifiziert nun Unternehmen mit dem Cradle-to-Cradle®-Zertifikat, wenn diese ihre Produktion dahingehend überarbeiten, dass die eingesetzten Materialien entweder kompostierbar sind oder erneut verwendet werden können – sie also wieder in einen Stoffkreislauf eingebunden werden. Das Gute an den Zertifikaten ist, dass sich die Firmen, die sie bekommen möchten, Gedanken über ihre Produktion und ihren Materialeinsatz machen müssen. Ob sich dieses Prinzip langfristig bewähren wird, ob es wirklich funktioniert, dass sich eine Firma verpflichtet, einen verkauften Stuhl nach Jahren wieder zurückzunehmen und die Materialien wiederzuverwenden, wird sich zeigen. Denn wer weiß heute schon, ob die Firma nach so vielen Jahren noch dazu in der Lage ist beziehungsweise ob es sie dann überhaupt noch gibt? Oder ob der Verbraucher überhaupt bereit ist, das vor Jahren gekaufte Produkt nicht in den Müll zu werfen, sondern wieder zum Hersteller zurückzubringen?

Von Beerdigungen kennt man die biblische Formel: „Aus der Erde sind wir genommen, zu Erde sollen wir wieder werden.“ Wenn man heute meint, mit Cradle-to-Cradle® den Stein der Weisen gefunden zu haben, sprechen wir da nicht von Selbstverständlichkeiten?

Nein, leider nicht. Wie oft wird denn bei der Entwicklung von Produkten darauf geachtet, dass sie später wieder in ihre Einzelteile zerlegt und die verwendeten Materialien sauber voneinander getrennt werden können? Wie oft macht sich ein Designer beim Designprozess Gedanken über die Herstellung und den Produktionsprozess? Wenn diese Überlegungen gar keine Rolle spielen, dann wird die Möglichkeit eines geschlossenen Stoffkreislaufs von vornherein ausgeschlossen. Das heißt nicht, dass es bis zur Entwicklung dieses Prinzips niemanden gegeben hätte, der entsprechend gearbeitet hätte. Hier in Deutschland wähnt man sich sehr weit fortgeschritten in Bezug auf den nachhaltigen Lebenswandel – Stichwort Mülltrennung. Ist das unterm Strich tatsächlich der Fall? Sind wir Nachhaltigkeitsmeister? Die Frage ist, was man als Referenz für Nachhaltigkeit heranzieht. Wenn man sich beispielsweise im Urlaub angesichts vieler herumliegender Plastiktüten zu Hause wesentlich ökobewusster wähnt, lässt man außer Acht, dass das Urlaubsland wahrscheinlich nur einen Bruchteil der CO2-Menge ausstößt, die Deutschland jedes Jahr in die Atmosphäre pustet. Oder dass der dort herumliegende Müll nur ein Bruchteil des Mülls darstellt, den wir in Deutschland jedes Jahr produzieren. Wir glauben, dass wir weit vorn sind – und was den Ausbau erneuerbarer Energien angeht, stimmt das auch. Auf der anderen Seite sind wir aber auch Spitzenreiter beim Papierverbrauch oder beim Produzieren von Sondermüll.

Das ist oft auch ein Bequemlichkeitsproblem. Wenn man beispielsweise in Indien auf dem Markt einkaufen geht, sieht man, wie sich die Leute Joghurt aus einem großen Pott in einen Behälter abfüllen lassen, den sie von zu Hause mitgebracht haben. Hier dagegen geht man in den Supermarkt und kauft sich lauter kleine Becherchen. Ein Thema, das in der öffentlichen Debatte noch überhaupt nicht angekommen ist, obwohl dort so viele Ressourcen verbraucht werden wie nirgendwo sonst, ist der Bau von Gebäuden. Eigentlich liegt hier der Hauptansatzpunkt für Reformen, die wirklich zu einer Veränderung beitragen können. Der Energie-, Wasser- und Rohstoffverbrauch beim Bau und Betrieb von Gebäuden ist immens hoch. Dem Verbraucher muss bewusst werden, dass er auch in diesem Bereich eine Verantwortung trägt. Nicht nur beim Joghurtbecher.

Nachhaltigkeit wird zumeist als ökologisches Thema verstanden. Besteht nicht die Gefahr, dass wir dabei ein romantisches Naturbild vor Augen haben, in dem all die Katastrophen und Ungleichgewichte, die in der Natur vorkommen, ausgeklammert werden? Müssten wir uns in dieser Hinsicht nicht ein Stück weit von der Natur emanzipieren, das heißt, uns fragen, was der Naturkreislauf eigentlich mit einer funktionierenden Gesellschaft zu tun hat?

In der Tat ist Nachhaltigkeit wohl weniger ein ökologisches denn ein ökonomisches Thema. Wir werden mit Nachhaltigkeit nicht die Welt retten. Viele Ökos der 80er-Jahre leiten heute große Firmen, etwa in den Bereichen Windkraft oder Solarenergie. Trotz aller Visionen sind sie das Thema auch nüchtern ökonomisch angegangen. Hier sind Firmen entstanden, die heute Milliarden umsetzen. Und wenn man bedenkt, dass inzwischen sieben Milliarden Menschen auf diesem Planeten leben und ihre Zahl weiter steigt, dann muss man sich vor allem die Frage stellen, wie die Wirtschaft organisiert werden kann, um diese Menschen zu ernähren. Wenn wir jetzt umlenken, dann haben wir langfristig eine neue Perspektive. Wenn wir dagegen weitermachen wie bisher, fahren wir das Ganze noch schneller an die Wand und haben langfristig auch ein ökonomisches Problem, weil irgendwann keine Ressourcen, keine Materialien – siehe beispielsweise Kupfer – mehr da sind. Es muss aus ökonomischen Gründen ein Umdenken stattfinden. Die Firmen haben inzwischen erkannt, dass Nachhaltigkeit nicht mehr nur irgendwelche strickenden Ökos angeht, die von einer besseren Welt träumen, sondern dass es darum geht, auch in Zukunft noch Geld verdienen zu können.

Andererseits könnte man die apokalyptischen Szenarien, die im Zusammenhang mit der Nachhaltigkeitsdebatte bemüht werden, als fatalistisches Gerede abtun. Es gibt schließlich genügend renommierte Wissenschaftler, die die Klimaerwärmung als Lüge bezeichnen. Können wir uns also entspannt zurücklehnen?

Man kann sich natürlich die Frage stellen, ob uns nicht das Schicksal bevorsteht, das bisher jede Hochkultur ereilt hat, nämlich unterzugehen. Es ist schon paradox, dass der Mensch – obwohl er sich für die intelligenteste Spezies hält –, dazu neigt, seinen Lebensraum zu zerstören. Und zwar ziemlich konsequent und strukturiert. Das tut kein anderes Lebewesen auf der Welt. Warum er das tut? Keine Ahnung. Wenn also die Menschheit am Abgrund steht, müssen wir uns dringend fragen, worin die Alternative zu all den Initiativen besteht, die weltweit den Karren aus dem Dreck zu ziehen versuchen. Verzweiflung, Zynismus?

Aber die Kritik am Nachhaltigkeitskonzept ist in anderer Hinsicht durchaus berechtigt: Nur dadurch, dass man die Produktion entsprechend anpasst, ist es bei Weitem nicht getan. Denn wenn wir weiterhin so billig konsumieren wollen, müssen wir uns auch eingestehen, dass dies nur möglich ist, wenn unsere Konsumgüter unter teilweise fürchterlichen Arbeitsbedingungen hergestellt werden. Wenn wir auch soziale Nachhaltigkeit erreichen wollen, stellt sich die Frage, ob das kapitalistische System, in dem wir im Moment leben und produzieren, das richtige ist. Vielleicht müsste sich letztlich die gesamte Volkswirtschaft wandeln.

Der Kapitalismus, wie er gerade existiert, wird sich nicht von allein ändern. Da müssten die Lobbygruppen ja bereit sein, freiwillig Macht abzugeben. Und nicht nur das: Die Besitzverhältnisse müssten sich ändern, Enteignungen müssten stattfinden. Das heißt, es müsste ein großer politischer Umbruch erfolgen. Haben Sie irgendeine Idee, wie der aussehen könnte? Wie eine Gesellschaft aussähe, in der vernünftiges Produzieren und Konsumieren möglich wäre?

Ein Patentrezept gibt es wohl nicht. Man sieht jedoch, dass wir im Moment wirklich eingleisig fahren. Nachdem der Kommunismus sich vor 20 Jahren selbst aufgelöst hat, ist kein Gegenpol mehr vorhanden. Man könnte auch sagen: Der Kapitalismus hat nicht gewonnen, sondern ist übrig geblieben. Es gibt keinen Gegenentwurf, der schon so ausgereift wäre, dass er eine ernsthafte Alternative darstellen könnte. Ob die GemeinwohlÖkonomie Potenzial dazu hätte, ist eine schwierige Frage.

Gemeinwohl-Ökonomie: In der „Gemeinwohl-Bilanz“, dem Herzstück der Gemeinwohl-Ökonomie, werden Werte wie Transparenz, soziale Verantwortung, ökologisch nachhaltiges Wirtschaften und gesamtgesellschaftliche Solidarität gemessen. Ein Unternehmen erhält „Gemeinwohl-Punkte“, wenn es zum Beispiel die Beschäftigten mitbestimmen lässt, gleich viele Frauen wie Männer in Führungspositionen wählt, für gleichen Arbeitseinsatz den gleichen Lohn bezahlt oder einen hohen Anteil der zugelieferten Produkte aus der Region bezieht. Je höher die Punktezahl, umso mehr Vorteile können dem Unternehmen gewährt werden: günstigerer Mehrwertsteuersatz, niedrigerer Zoll-Tarif, günstigerer Kredit bei der „Gemeinwohl-Bank“ oder Vorrang im öffentlichen Einkauf.

Auf der anderen Seite ist es aber auch spannend, welch radikale Veränderungen doch möglich sind – siehe Fukushima und den deutschen Atomausstieg. Die Grünen haben 30 Jahre lang dafür gekämpft und plötzlich wurde er einfach durchgesetzt. Es war für alle eine große Überraschung, dass das so schnell möglich ist, schließlich wurde mit Atomkraft eine Menge Geld verdient. Da stellt sich die Frage, ob ein so radikaler Bruch nur dann möglich ist, wenn eine Katastrophe geschieht. Muss immer erst etwas passieren?

Fukushima ist ein gutes Beispiel für die Möglichkeit eines radikalen Umbruchs. Bis zuletzt waren sich alle darin einig, dass Deutschland den Atomausstieg nicht allein durchsetzen könne. Und plötzlich haben wir es doch getan. Was spricht also dagegen, alle anderen Probleme auch alleine anzugehen?

Das ist in unserer globalisierten Welt nicht ganz einfach. Wir haben gerade erst wieder erleben müssen, wie sich die USA und China auf dem letzten Klimagipfel in Durban geweigert haben, jeden Vertrag, der den Ansatz einer Lösung hätte bieten können, zu unterzeichnen. Das ist doch völlig absurd.

Sollte man nicht viel mehr danach gehen, was einem wichtig ist, und weniger, was beispielsweise die internationale Diplomatie verlangt? Warum nicht einfach mal was ausprobieren, wenn die Probleme ohnehin jeden Tag größer werden? Vielleicht würde sich dadurch ja irgendwo ein Türchen öffnen. Muss es ein Land nicht einfach einmal wagen, das Risiko einzugehen, von der restlichen Welt gebrandmarkt zu werden? Anstatt sich in ewigen Diskussionen zu verlieren, einfach mal sagen: Davon bin ich überzeugt, das ziehe ich durch?

Der Eindruck liegt nahe, dass die internationalen Beziehungen oftmals als Entschuldigung dafür herangezogen werden, dass nichts passiert. Doch beim Atomausstieg stellt sich durchaus die Frage, wie das ohne langwierige Abstimmung mit den europäischen Partnern ablaufen konnte. Es stimmt, wir sind eine Wirtschaftsmacht, die Signale geben kann. Und bei den nachhaltigen Energiequellen sind wir auch Vorreiter, da verfügen wir über weltweit führende Technik. Insofern könnte Deutschland auf jeden Fall voranschreiten. Die Politik traut sich nicht genug zu und lässt sich von Lobbygruppen beeinflussen. Sie müsste einen Schritt weiter gehen.

Wäre es möglich, für die Politik einen Nachhaltigkeits-Masterplan zu entwerfen, in den alle hergestellten Produkte integriert werden können?

Es gibt bereits verschiedene Möglichkeiten, ein Produkt zu bewerten, zum Beispiel anhand der Kriterien Ökobilanz oder Lebenszyklus.

Ökobilanz/Lebenszyklus: In einer Ökobilanz werden möglichst umfassend der Lebensweg eines Produkts sowie die auf diesem Lebensweg auftretenden Stoff- und Energieumsätze und die daraus resultierenden Umweltbelastungen bewertet. Die ökologische Lebenszyklusanalyse ist eine Methode, die es ermöglicht, alle potenziellen Umweltwirkungen eines Produkts oder Prozesses über dessen gesamten Lebenszyklus zu erfassen und zu bewerten. Mittels dieser Bewertung kann im Anschluss eine Optimierung der Materialauswahl beziehungsweise der Konstruktion vorgenommen werden.

Weil die Kriterien aber immer von unterschiedlichen Menschen erstellt werden, die entsprechend verschiedene Prioritäten haben, werden bei jeder Berechnung bestimmte Kriterien eben nicht oder weniger stark berücksichtigt. Auch wenn vieles als wissenschaftlich gesichert gilt, ist es doch nicht so, dass wir „die“ Formel hätten, nach der wir uns alle richten könnten. In jeder Formel fehlt etwas. Selbst bei der Berechnung von Lebenszyklen geht man von unterschiedlichen Grundannahmen aus oder gewichtet Komponenten ganz verschieden. Damit zeigt sich ein generelles Problem der Nachhaltigkeitsdebatte: Anstatt bestehende Strukturen grundsätzlich zu hinterfragen, versucht man lediglich, sie zu modifizieren; anstatt seine Gewohnheiten zu verändern, eine neue Richtung einzuschlagen, wechselt man einfach die Spur.

Das Interview führten Frank Augustin und Wolfram Bernhardt.
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